Wissen ist nicht vermittelbar

Mythos Wissensvermittlung: Ein Interview mit Prof. John Erpenbeck, Experte für Kompetenzentwicklung und Partner des Kompetenzlabors. 

 

Herr Prof. Dr. Erpenbeck, könnte man sagen Lernbereitschaft ist nicht alles, aber ohne Lernbereitschaft ist alles nichts?

Es gibt ja den schönen Satz von Konrad Lorenz, dem berühmten Verhaltensforscher: „Leben ist Lernen“. Insofern ist das Lernen gar nicht zu vermeiden. Nur müssen wir das Gelernte unterscheiden, in Informationswissen und in Handlungswissen. Wir müssen beides parat haben. Wenn Schule, Universität oder andere Bildungseinrichtungen glauben, dass sie Kompetenzen entwickeln, indem sie allein Informationen vermitteln, haben sie einen falschen Blick auf den Lernbegriff.

Sehen Sie also Nachholbedarf was die Vermittlung von Handlungswissen angeht?

Ja, massiv, weil im Grunde genommen sich eine Form von Wissensvermittlung ausgebildet hat, die mit dem realen Leben nichts zu tun hat. Denn mit Informationen allein können Sie nichts anfangen. Sie müssen immer auch lernen, dieses Informationswissen anzuwenden. Aber auch die Idee der Wissensvermittlung selbst ist schlicht falsch. Es ist ein Mythos, dass man Wissen vermitteln kann. Das kann man nicht. Man kann nur Wissen beim anderen aufbauen – das hat der Konstruktivismus meiner Ansicht nach inzwischen unwiderleglich gezeigt – dass man nur Ermöglichungsbedingungen für die Wissensaufnahme schaffen kann. Und das Wissen, dass ich auf diese Weise aufbauen kann, ist deutlich geteilt in informationsbasiertes Wissen und handlungsbasiertes Wissen, in dem ich Bewertungen, Werte, Regeln und Normen zu eigenen Emotionen interiorisiere, also verinnerliche.

Haben Computer, hat das Internet das Lernen heute verändert?

Das kann man so nicht sagen. Es gibt sehr unterschiedliche Formen von Medieneinsatz. Es gibt Medien, die das Lernen erleichtert haben, weil wir leichter an Informationswissen herankommen. Es gibt soziale Medien, die den Austausch über Wissen ermöglichen, aber immer noch nicht unbedingt einen Wissensaufbau fördern. Und es gibt in Zukunft immer mehr Medien, die das, was für Kompetenzentwicklung eigentlich wichtig ist, in sich tragen. Nämlich die Verbindung von Informationswissen und emotionaler Bewertung des Wissens, indem sie realistische Szenarien schaffen, in dem sie den Lernenden selbst verunsichern – wir sagen dazu emotional labilisieren – und damit erst aufschließen für die richtige Art von Handlungslernen.

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Prof. John Erpenbeck ist Experte in den Bereichen Kompetenzmessung und Kompetenzzertifizierung, Kompetenzentwicklung bzw. Kompetenzmanagement und unterstützt das Kompetenzlabor bei der Erarbeitung onlinegestützter Testverfahren.

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Welche Bedingungen müssen Medien in Ihren Augen mitbringen, um diese Ermöglichungen herzustellen?

Sie müssen tiefgreifende emotionale Beunruhigung, Irritationen erzeugen. Das sagt sich leicht, ist aber ganz schwer, weil die Leute sehr wohl unterscheiden können, zwischen einem medialen Konflikt – beispielsweise in einer Spielsituation – und einem realen Konflikt.

Wir lernen also dann gut, wenn es um was geht.

So ist es. Weil jemand emotional berührt und erfasst werden muss und das ist oftmals mit reinen Spielhandlungen nicht getan.

Können wir von Dramatikern lernen, die Jammern und Schaudern erzeugen, mit dem hehrem Ziel der Charakterbildung?

Ja, ganz eindeutig ist die ganze Aristotelische Katharsistheorie eine frühe Fassung dieses Mechanismus. Die Kunst ist ein werteproduzierendes Organ der Gesellschaft. Sie lehrt dabei nicht im Sinne von Informationswissen.

Da sind wir auch wieder bei der Schwäche der Schulbildung. Selbst Kunst- und Literaturunterricht werden auf  Informationsdechiffrierung reduziert. Wieso reduzieren Lehrer das Lernen so oft auf Informationswissen?

Es gibt eine Bewegung in der europäischen Geistesgeschichte, die beginnt mit Newton, die hat ihren ersten Höhepunkt bei Kant und die geht weiter mit der Aufklärung bis ins 19. Jahrhundert, die kann man mit dem holländischen Philosophen Dyksterhuis als „Mechanisierung des Weltbildes“ bezeichnen. So haben wir eine Vorstellung von der Welt, die im Grunde genommen auf Sachwissen gebaut ist, wo Sie zukünftige Zustände errechnen können, wo Emotionen stören und Wissen wertfrei dargestellt wird. Damit hat man auch große Erfolge gehabt. Ich darf das sagen, ich bin Physiker. Das Problem ist nur, dass wir damit allein grausig schief liegen.

Weil das Handlungswissen zu kurz kommt.

Ja, denn zum Beispiel politische und wirtschaftliche Entscheidungen werden als Bauchentscheidungen gefällt und nicht allein aus der rationalen Analytik heraus.

Was muss passieren, dass Handlungswissen stärker in den Fokus gerät?

Die Pädagogik muss sich mehr auf Schulexperimente einlassen. Es gibt eine Vielzahl von pädagogischen Modellen, die das längst berücksichtigen. In reinen Informationsvermittungsschulen braucht es kein Handlungswissen, der Abiturient muss ja nicht handeln. Pädagogen nennen das drastisch Bulimie-Lernen: Fressen, auskotzen, vergessen. Und das können die meisten Abiturienten ganz gut.

 

Bild oben: ohneski/Quelle PHOTOCASE